kopfkino auf der bühne
Am tfn feiert das Schauspiel unsere anarchistischen herzen seine Uraufführung - ein Stück nach dem gleichnamigen Roman der Hildesheimer Autorin Lisa Krusche. Dramaturgin Cornelia Pook hat sich mit Moritz Nikolaus Koch, dem Regisseur und Autor der Bühnenfassung, noch vor Probenstart getroffen.
↗ Was fasziniert dich an dem Roman von Lisa Krusche?
Für mich hat das Buch gleichzeitig eine große Frische und Spritzigkeit, aber eben auch eine große Tiefe und Emotionalität. Wie schon lange kein Text mehr, hat der Roman mir fühlbar gemacht, wie es sein muss, heute in der deutschen Provinz erwachsen zu werden und als junger erwachsener Mensch in die Welt und in die Zukunft zu schauen, die diese Generation schon morgen erben soll. Es ist ein junges Buch, ein feministisches, politisches, wütendes, trauriges und doch auch ein zärtliches, lebenshungriges, liebe- und hoffnungsvolles Buch.
↗ Wer sind Gwen und Charles, die Protagonistinnen des Romans, für dich?
Mit Gwen und Charles lernen wir zwei junge Frauen kennen, die auf ziemlich entgegengesetzte Art und Weise mit ihren Verhältnissen kämpfen. Gwen stammt aus sehr reichen, prolligen, neoliberal-konservativen Verhältnissen, Charles aus einem durch und durch linksliberal, avantgardistisch-freigeistigen Künstler-Elternhaus, aber beide wachsen völlig vereinsamt auf. Wohlstandsverwahrlosung trifft auf Freiheitsverwahrlosung. Ihre beiden Welten liegen an zwei extremen Enden unserer Gesellschafs-Skala, sie könnten also fast exemplarisch stehen, und doch sind beide Charaktere so fein, vielschichtig und psychologisch präzise erzählt, dass sie sich für mich nicht auf eine bestimmte Deutung reduzieren lassen. Für mich sind sie zwei ganz eigene komplette Menschen, so als würde ich sie gut kennen und ständig mit ihnen rumhängen: Gwen und Charles eben.
↗ Warum findest du das Buch geeignet für die Bühne?
Das Buch ist 2020-21 entstanden, und das spürt man beim Lesen. Wie kaum ein anderes Buch, das ich in diesem Jahrzehnt bisher gelesen habe, bildet es unsere Welt, unsere Zeit, unsere Gesellschaft ab. Und ist nicht eben das eine der Hauptaufgaben des Theaters? Wenn unser Auftrag lautet, mit den Mitteln der Bühne (also Geschichten erzählend, emotional, musikalisch, poetisch) zum aktuellen gesellschaftlichen Diskurs beizutragen, dann finden wir in diesem Text eine großartige Vorlage.
↗ Der Roman spielt an vielen verschiedenen Orten. Wie funktioniert das auf der Bühne?
Der Roman spielt an vielen verschiedenen Orten in und um Hildesheim und ist in einer erzählenden Prosa aus der Perspektive der beiden Protagonistinnen geschrieben. Beides habe ich in der Stückfassung so beibehalten. Dieses Erzähl-Prinzip als Inszenierungsansatz schätze ich, weil es noch stärker als sonst mit der Fantasie der Zuschauenden arbeitet und uns deshalb so viel mehr Möglichkeiten gibt als ein rein naturalistischer Ansatz. Es ermöglicht uns u. a. blitzschnelle Rollen- und Ortswechsel ohne große Umzieh- oder Umbauaktionen, und als Hildesheimer Theater haben wir hier gegenüber anderen Theatern natürlich auch einen großen Standortvorteil: Die Erzählerinnen benennen, was oder wen wir sehen, und schon sehen wir es. Der Galgenberg, die KuFa, der Panoramaweg und die Steingrube sehen in der Fantasie der Hildesheimer Zuschauenden viel echter aus, als ein Bühnenbild sie je abbilden könnte. Was wir benennen, müssen wir nicht zeigen, und andersherum. Wenn wir erzählen, jemand sei groß, klein, dick, ein Pony, oder nackt, so müssen wir es nicht zeigen. Wir müssen nur die Fantasie der Zuschauenden kitzeln. Kopfkino schlägt Realismus. Immer.
↗ Wie wichtig für die Geschichte ist die Tatsache, dass sie in und um Hildesheim spielt?
Der Roman funktioniert sicherlich ebenso gut, wenn er in Husum oder Kostanz oder Trier oder Chemnitz gelesen wird. Das hat ja sein Erfolg bewiesen. Es ist eine Geschichte über das Erwachsenwerden in der Provinz einer Wohlstandsgesellschaft, das ist nicht Hildesheim-spezifisch, auch in Trier gibt es einen Park wie die Steingrube, auch in Husum ein Kulturzentrum wie die Kulturfabrik Löseke. Als Hildesheimer Lesende genießen wir natürlich einen gewissen Bonus, weil wir die beschriebenen Orte noch viel deutlicher vor unserem geistigen Auge sehen. Und diesen Bonus können wir uns für die Bühnenadaption natürlich ganz gut zunutze machen, siehe oben. Aber da wir als theater für niedersachsen natürlich nicht nur Hildesheimer, sondern auch Nienburger, Itzehoer, Wunstorfer und Gronauer Zuschauende haben, dürfen wir uns auf diesem Bonus nicht ausruhen. Doch ich bin zuversichtlich: Was deutsche Provinz bedeutet, das weiß man auch dort ganz gut ohne genaue Kenntnisse des Hildesheimer Galgenbergs.
↗ Wie ist deine Beziehung zu Hildesheim?
Ich lebe seit 2007 in Hildesheim. Damals war ich gerade 30 geworden, also aus Charles' und Gwens Sicht zwar auch schon uralt, aber eben in Wahrheit doch noch ein junger Mensch, der für den Job aus dem hippen Berlin in die Provinz gezogen war. Es ging mir damals genau wie Charles. Dann hat das Leben sein Wörtchen mitgeredet, ich habe mich hier verliebt, eine Familie gegründet, mich niedergelassen. Heute liebe ich Berlin noch immer, aber ich möchte dort nicht mehr leben. Ich sehe mich als Wahl-Hildesheimer, ich mag es hier. Auch deshalb, aber ganz sicher nicht nur deshalb, mag ich unsere anarchistischen herzen.

Foto: Tim Müller