eine frage, der wir uns alle irgendwann stellen müssen

»Welch eisiges Händchen!«, muss der Dichter Rodolfo mit Erstaunen feststellen, als er die Hand seiner Nachbarin Mimì berührt. Es ist ihre erste Begegnung. Nur wenig später werden sie eines der bekanntesten Liebespaare in der Operngeschichte und sind zumindest für eine gewisse Zeit gemeinsam glücklich. In Mimìs eiskaltem Händchen ist nicht nur der unerbittliche Pariser Winter zu spüren, es ist auch Ausdruck ihrer Krankheit, einer Lungentuberkulose, die sie am Ende des Stücks das Leben kosten wird. Mimìs Krankheit steht daher am Anfang und am Schluss ihrer Liebesgeschichte mit Rodolfo.

Mimì sucht Rodolfo in seiner Wohnung auf, weil sie auf Feuer für ihre erloschene Kerze hofft. Bevor sie sich Rodolfo richtig erklären kann, erleidet sie einen Hustenanfall und wird ohnmächtig. Rodolfo fängt Mimì auf. Ihre kränkliche Schönheit beeindruckt ihn. Später ist die Krankheit der Grund für die Trennung der beiden. Rodolfo entscheidet selbst, dass es Mimì an der Seite eines anderen bessergehen müsste, weil er, der mittellose Bohemien, ihr nicht den Lebensstandard und die Versorgung bieten kann, die sie benötigt. Im Frühjahr soll Schluss sein. Einige Monate nach der Trennung, nachdem sich ihr Zustand bereits massiv verschlechtert hat, kehrt Mimì zurück, um in Rodolfos Beisein zu sterben.

Juana Inés Cano Restrepo inszeniert Puccinis la bohème am tfn. Es ist ihre zweite Regiearbeit am Haus, nachdem sie bereits mit einer brandaktuellen Inszenierung von Georges Bizets carmen in der Spielzeit 21_22 für Aufsehen sorgte. Mit dem tfn-Dramaturgen Leon Battran hat sie über ihre Ideen für die aktuelle Inszenierung gesprochen.

↗ Wann bist du zum ersten Mal mit Puccinis la bohème in Berührung gekommen und welchen Eindruck hat das Stück bei dir hinterlassen?

Das Stück habe ich erstmals während meiner Schulzeit in Graz gesehen und habe es damals schon als sehr intensiv, pulsierend, aufregend und aufwühlend empfunden. Der Eindruck hat sich über die Jahre verstärkt, auch durch die Lektüre der literarischen Vorlage bohème. szenen aus dem pariser leben von Henri Murger.

↗ In deiner Inszenierung legst du den Fokus auf die Figur der Mimì. Warum war dir das wichtig?

Auch hier hat mich Murger inspiriert. In seinem Werk gibt es zwei Frauenfiguren - Mimì und Francine -, die sehr unterschiedlich mit ihrer tödlichen Krankheit umgehen. Das hat mich veranlasst zu fragen: Wie geht es jemandem, der unmittelbar mit seinem Ableben konfrontiert wird? Will man das wahrhaben? Stürzt man sich noch einmal in Abenteuer, schwelgt in Erinnerungen und verdrängt die Realität? Wann muss man sich jedoch dieser Realität zwangsläufig stellen? Es ist eine Frage, die uns früher oder später alle beschäftigt. Der Tod ist Teil des Lebens, auch wenn wir das manchmal gerne anders hätten. Da wir sonst in der Oper sehr wenig über Mimìs Leben erfahren, fühlt es sich richtig an, ihr den Platz für diese gedankliche Reise in unserer Inszenierung einzuräumen.

↗ Wie würdest du die Bohemiens beschreiben? In welchem Licht siehst du die Freunde?

Unsere vier Freunde sind Meister der Realitätsflucht. Sie schaffen es immer wieder, sich geschickt aus der Affäre zu ziehen, besonders wenn es darum geht, Rechnungen zu bezahlen. Hier verbinden sich für mich die beiden Erzählstränge auf geniale Weise: Im übertragenen Sinn schaffen es die Bohemiens, inklusive Musetta, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und ihm genussvoll auf der Nase herumzutanzen. Diese Leichtigkeit zieht Mimì - und ich denke auch uns alle - an.

↗ Ist la bohème für dich ein zeitloser Klassiker oder bedarf es einer Aktualisierung?

Ich denke, das hängt davon ab, worauf das jeweilige Regieteam den Fokus setzen möchte. Will man sehen und erforschen, in welchen prekären Verhältnissen Künstler_innen heute leben? Was Künstlertum heute bedeutet? Wie es um die Gesundheitsvorsorge bestellt ist? Geht es um Drogen? Ich glaube, es gibt vielfältige Möglichkeiten, die Oper zu aktualisieren. Zeitlos ist und bleibt für mich die Auseinandersetzung und Annäherung an den Tod, daher ist sie auch mein zentraler Dreh- und Angelpunkt geworden.

↗ Was erwartet uns als Publikum, wenn wir deine bohème besuchen?

Eine minimalistische Ausstattung ganz im Sinne des französischen Existenzialismus und den begrenzten Mitteln der Bohemiens, die dem improvisatorischen Charakter des Stücks gerecht wird und den Fantasien, Hoffnungen und Albträumen Mimìs ihren Platz einräumt.